Das Dilemma mit den Werten.

Wir sind in einem Dilemma. Politik & Medien schweigen.

Wir als Gesellschaft wollen weiterhin selbstverständlich Schwule, Lesben, Trans-Leute schützen. Genauso auch Migranten und Geflüchtete. Das tun wir seit über 60 Jahren und haben in den letzten 50 Jahren Großartiges geleistet. Auch wenn es immer noch viel zu tun gibt. Und das Erkämpfte sogar wieder in die Schusslinie kommt.

Wir haben in der Tat hart und lange dafür gekämpft, dass die Trans- und Queer Feindlichkeit eingedämmt wird. Ich selbst bin mal mehr, mal weniger seit Jahrzehnten dabei.
Spätestens mit dem grandiosen Satz von Klaus Wowereit im Sommer 2001 „Ich bin schwul und das ist gut so.“
ist Schwulsein raus aus der Dunkelecke. Mit dem Oberbürgermeister der Bundeshauptstadt wurde es sogar salonfähig. Sehr cool damals.

Das ist 20 Jahre her und war ein großer Freischlag. Grandios. Danach konnten Politiker, Medienschaffende und andere sehr viel leichter ins Outing gehen, ohne Repressalien zu befürchten. Wir haben schwule Bundesminister, Bürgermeister, Parteivorsitzende, Parlamentarier, lesbische Ärztinnen, Schauspielerinnen und Talkshow Prominenz.
Sogar die Bayrische Staatskanzlei, der Reichstag sowie große Versicherungskonzerne und kleine Gemeinden hissen die Regenbogenfahne. Ich sehe das mit Freude und Respekt

Ebenso haben wir uns dafür eingesetzt, dass Migranten eine enorm bessere Teilhabe bekommen. Wir haben mittlerweile Bürgermeister, Bundesminister, Parteivorsitzende, Parlamentarier, Forscherinnen, Ärztinnen, Landesbeauftrage, Professorinnen und so weiter mit Migrationsbiographie. Auch hier wurde viel erreicht. Zu Recht und weil alle Beteiligten sich ins Zeug gelegt haben. Mehrheiten und Minderheiten gemeinsam für alle. Sehr gut.

Genau das „Gemeinsam für alle“ zerbröselt gerade an einigen unterschiedlichen Rändern.

Nur ein Aspekt. Was neu ist in den letzten Jahren. Immer mehr der Migranten und Geflüchteten kommen aus Ländern, die gerade Homosexualität oder auch freie Frauen in all ihren Facetten nicht so respektieren, wie wir es in den letzten Jahren etabliert haben.
Viele von ihnen bringen diese Ablehnung mit. Ob wir das wollen oder nicht. Bisher konnte man das ignorieren. Seit einigen Jahren nicht mehr, da die Übergriffe, auch tätliche zugenommen haben. Es ist schon zu viel Blut geflossen und zu viel Leid geschehen. Und das wird zunehmen, da es von keiner offiziellen Seite hierzu ein klares Problembewusstsein gibt. Es gibt keine klare Kampfansage. Und das ist bitter.

Außerdem haben wir im Land leider immer noch solche Leute, die schon immer hier waren und noch nie Schwule leiden konnten. Das alles wird auf die Dauer zu viel.
Die, die schon da sind und die, die von außen dazu kommen.

In Dresden wurden im Oktober 2020 zwei Schwule auf offener Straße aus islamistisch fundamentalistischen Gründen mit dem Messer angegriffen. Einer von ihnen starb. In den Medien wurde das lange unter dem Narrativ „Tourist in Dresden von Mann erstochen“ klein gehalten, bis es nicht mehr ging. Es hat fast zwei Wochen gedauert, bis das Motiv und der Täter einen Namen bekamen.

Genauso war es auch 2015/16. Es brauchte Tage, bis Medien und Politik Transparenz zuließen. Bitter dabei war, dass damals in NRW eine SPD Frau als Ministerpräsidentin am Ruder war. Das lange Schweigen zu diesem Angriff respektloser, junger Männer auf die Würde der freien Frau haben ihr viele Wählerinnen über genommen. Andere auch.

Und jetzt Malte in Münster. Kürzlich wurde eine Transfrau in Bremen in einem Bus beleidigt und verprügelt, während eine Horde junger Männer den Täter anfeuerten.

Wo bleibt der Aufschrei des Entsetzen meiner Genration und meines politischen Umfeldes? So laut und böse, wie er zu Recht gehört wird, wenn Rechtsradikale um sich schießen und Bürgerinnen und Bürger mit Wurzeln aus anderen L ändern töten.
Damit meine ich vor allem Sozialdemokratinnen und Grüne. Also all jener, die sich seit Jahrzehnten für Frauen, Lesben, Schwule einsetzen und vielfach selbst dafür diffamiert wurden? Sobald klar wird, dass der Täter aus einer „schützenswerten“ Gruppe kommt, wird es leiser.
Bloß kein Fass aufmachen. Bloß nicht den Rechten in die Hände spielen. Da werden auch schon mal andere Werte für geopfert.

Und genau das ist unser Dilemma.

Was also tun?
Als Einzelfall ablegen? Wieder. Und wieder? Wohl kaum. Wenn zur landeigenen Schwulenfeindlichkeit noch vermehrt der von Außen dazu kommt, wird es brenzlig“, sagen mittlerweile auch Wählerinnen und Wähler von SPD und Grüne. Immerhin.

Nur hört man die nicht öffentlich. Nur ausnahmsweise.
So was wird nur unter vier Augen gesagt. Das macht alles noch schlimmer. Denn in dieses Vakuum springt wie immer die AfD und übernimmt so die Deutungshoheit für gesellschaftlich relevante Themen. Und wir überlassen ihr diese Deutungshoheit.
Das ist feige und fahrlässig.

Hierzu muss es endlich seitens der Regierung, mitgetragen von Organisationen, Kirchen und Moscheeverbänden sowie den Medien, neue Lösungswege geben.

Antirassistisch im Grundsatz und ohne Tabus in der Umsetzung.
Das heißt auch, dass man sich von Bildern, Visionen und Grundsätzen aus den 1980ern und 1990ern trennen muss. Dass diese angepasst werden und weiter entwickelt werden müssen.

Das tut weh. Ist aber nötig, wenn wir unsere Werte und die hart erkämpften Rechte unserer Minderheiten im Land weiterhin schützen wollen

Zum Angriff auf Salman Rushdie – Messer in der Hand und Mittelalter im Kopf

Radikale Fundamentalisten mit Messern in der Hand und dem finsteren Mittelalter im Kopf töten und bekämpfen vor allem Muslime. Liberale und freiheitliche denkende Muslime. Die, die wichtiger Teil unserer Gesellschaft sind und die unsere Unterstützung brauchen.

Das wird von den meisten nicht wahrgenommen. Aus Angst, was Falsches zu sagen, wird lieber nichts gesagt. Könnte ja falsch verstanden werden und Gefühle verletzen. Außerdem rassistisch rüberkommen.

Es wird auch gar nicht erst differenziert.

Damit werden die Fundamentalisten, auch die gewaltlosen, gestärkt und die Liberalen unter den Muslimen geschwächt.

Sabine Raiser

Seit Jahrzehnten geht das so hier im Land.

Und es wird uns krachend auf die Füße fallen.

Vom Verlust der politischen Heimat

Verlust der politischen Heimat

Was viele noch nicht wissen.

Einer von einigen Kollateralschäden der von Grün & FDP

angestrebten Reform des aktuellen Transsexuellengesetzes

wird zum Verlust der politscher Heimat führen.

Das sind die vielen heimatlos gewordenen Linken,

heimatlos gewordene Sozialdemokratinnen,

heimatlos gewordene Grüne und nicht zuletzt

heimatlos gewordene FDPlerinnen,

die alle nicht fassen können, wie es eine kleine Gruppe von aggressiven transaktivistischen Schreihälsen

 innerhalb einer kleinen Gruppe von respektablen Transmenschen geschafft hat, so viel Deutungshoheit über Politik und Medien zu bekommen,

dass alle Kollateralschäden des neuen TSG unter den Teppich gekehrt werden.

Wird der Wut-Winter herbeigeredet?

Soll er herbei geredet werden,

dieser fiktive „Wut-Winter“,

oder warum diese ständigen Veröffentlichungen auf allen Kanälen?

Oder soll schon mal frühzeitig klar gemacht werden, dass jede Kritik unweigerlich und selbstverständlich von Rechts kommt und von den „Querdenkern“, damit bloß keiner auf die Idee kommt, Kritik zu äußern und auf die Straße zu gehen. Denn wer will schon zu den Querdenkern oder Rechten gezählt werden.

Fragen über Fragen….

Glück Auf, BIPoC Schwester

TAZ Kolumnistin Michaela Dudley  eine Berliner trans* Frau mit afroamerikanischen Wurzeln, ist eine „Frau ohne Menstruationshintergrund, aber mit Herzblut, in der Regel“, heißt es in der TAZ.

Sie schreibt:

„(…) Dem weiß dominierten Feminismus wohnt ein Rassismus inne, der historisch tief verwurzelt ist. Umso bedauerlicher ist es, dass viele „moderne“ Feministinnen dieses Problem leugnen und, mit geschichtsrevisionistischer Arroganz, die Errungenschaften Schwarzer Frauenrechtlerinnen ignorieren.

(…)Bei feministischen Stammtischen kommt es immer noch vor, dass Weiße uns in die Haare fassen wollen. Von wegen Safe Spaces. Tragen wir ein Kopftuch, ob aus modischen oder religiösen Gründen, können wir mit Putzfrauenwitzen rechnen.

Weiße Feministinnen agieren häufig im Sinne des Patriarchats.

So begegnen sie vielen Fortschritten in puncto Diversity mit demagogisch artikulierter Ablehnung. Welche marginalisierte Feministin, ob als Muslima, trans* Frau oder beides, möchte auf die Gnade einer Alice Schwarzer angewiesen sein? Die im Feminismus herrschende Misogynoir existiert nicht in einem Vakuum, sondern in einer brodelnden Biosphäre, in der besorgte Bür­ge­r*in­nen gegen die wirklich Benachteiligten unerbittlich kämpfen.

Es ist nicht das Ziel vieler weißer Feminist*innen, Gerechtigkeit für alle Frauen zu erlangen. Nein, sie sind von Angst vor Privilegienverlust getrieben. Denn sie haben sich mittlerweile darauf eingestellt, dass die weiße Mittelmäßigkeit, als gesellschaftliche Norm von heteronormativen Männern eingeführt, an und für sich vorteilhaft sein kann. Wir BIPoC-Frauen, die trotz struktureller Unterdrückung unermüdlich nach oben streben, jagen den Ewiggestrigen allerdings einen Schreck ein. Denn Privilegierte wittern, dass wir erfolgreicher mit Widrigkeiten umgehen können. Schon unsere Beherrschung der Mikroaggressionen, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind, härtet ab und sensibilisiert zugleich. Stehvermögen mit Soft Skills. Viele Unternehmen haben das erkannt und belohnen uns, wenngleich schleppend und nicht ohne Schönheitsfehler, mit beruflichen Positionen, die für uns eine Generation zuvor gar nicht infrage kamen.

Privilegierte Feministinnen und ihre Fürsprecherinnen haben grundsätzlich das Recht, die Welt von ihrer Warte aus zu beschreiben, ohne Weitsicht oder Nächstenliebe zeigen zu müssen. Sie müssen uns auch nicht den roten Teppich ausrollen – aber wir sind keine Fußmatten. So sollten sie sich nicht wundern, dass es noch lange nicht leise wird.“  (TAZ, 27.07.22)

Mein Kommentar dazu:

Liebe BIPoC Schwester: Wer große Ziele hat, braucht Verbündete.

Und wieder eine privilegierte PoC, die heftig und medienwirksam austeilt und hemmungslos beleidigt. Und trifft damit die Falschen. Schadet der Sache.

Dies auf einem Niveau, das wir sonst nur von Rassisten kennen, jenen also die Hautfarbe und Herkunft heranziehen, um andere herabzuwürdigen.

Schade. Wir waren schon mal weiter.

Zumindest Intellektuelle und Feministinnen – egal welcher Herkunft und welchen Geschlechts – waren sich einig, dass die Hautfarbe kein Bewertungskriterium mehr sein darf. Martin Luther King hat genau dafür gekämpft und wurde dafür getötet.

Jetzt hauen vermehrt weibliche PoCs solche rassistischen Texte raus. Miseria!

Wer große Ziele hat, sollte sich Verbündete suchen und nicht ausgerechnet jenen ans Bein pinkeln, die Verbündete waren und noch sind.

Es würde uns privilegierte weiße Frauen nämlich sehr freuen, wenn unsere PoC Schwestern in den Herkunftsländern ihrer Vorfahren oder auch hier im Land den Mut, die Kraft und die Hartnäckigkeit aufbringen könnten, ähnlich wie unsere privilegierten weißen Mütter und Großmütter das vor hundert Jahren und auch danach taten, als sie unter Einsatz ihres Lebens, ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit und ihrer Ehre auf die Straßen gingen und sich für ihre Rechte verprügeln und demütigen ließen, als sie dem weißen privilegierten Patriarchat klassenübergreifend in Form von Arbeitern, Bauern, Fabrikbesitzern und Kolonialherren vor die Füße spuckten. Die Frauen in Afghanistan tun das übrigens gerade sehr mutig. Vor Ort. An der Front.

Wenn unsere in Deutschland lebenden privilegierten PoC Schwestern ähnliches auch wagen würden, wäre das großartig.

Dann bräuchten wir weißen privilegierten, rassistischen Frauen uns nicht mehr finanziell, medizinisch und psychologisch um Tausende genital verstümmelter PoC Mädchen und Frauen in unserem Land kümmern, die leider immer wieder Opfer ihrer PoC Mütter und PoC Väter werden, die auch noch im 21. Jahrhundert dieses archaische und in Deutschland verbotene Blutritual praktizieren. Und du sagst wir sind Rassisten, weil eine mal beim Stammtisch deine Haare anfassen will? Verstehe.

Hier vermisse ich seit langem schon den Kampf und die Solidarität unserer privilegierten, akademisch gebildeten und finanziell abgesicherten PoC Schwestern mit ihren unterprivilegierten PoC Schwestern – wo auch immer in der Welt.

Die Energie und Medienpräsenz wäre für diese wichtige Sache weitaus besser eingebracht, als sich über die weißen, rassistischen Schwestern zu ärgern und diese zu verprellen.

Wenn unsere PoC Schwestern diesen Kampf beginnen würden, wäre das ein großer Schritt in die selbst erlangte Freiheit. Das wäre souverän.

Ein Befreiungsschlag in doppelter Hinsicht.

Nur zu und Glück Auf!

Ministerinnen fürchten Volksaufstand im Winter?

Bei aller Verachtung für Putin – dass wir jetzt zu wenig Gas bekommen, hat gewiss viele Gründe. Und ja – der Hauptgrund ist Putins mieser Angriffskrieg. Einer anderer ist aber auch womöglich der Auftritt unserer Außenministerin. Sie erklärte bereits am 26.02.22 also zwei Tage nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der Russen in die Ukraine öffentlich und sehr forsch, dass der Westen ein Maßnahmepaket an Sanktionen bereithält, das „Russland ruinieren“ wird. Russland ruinieren.

Das hätte man auch anders formulieren können. Da hätte man auch sagen können, das zum Ziel hat, dass Russland sofort seine Truppen abzieht. Aber nein – Russland sollte „ruiniert“ werden. Man weiß doch wie Despoten auf derlei Drohungen reagieren.

Außerdem war es die Außenministerin, die sehr früh einen sehr schnellen Gas- und Ölboykott für das beste Mittel hielt, Russland in die Knie zu zwingen. Ohne die Gewissheit zu haben, ob diese Maßnahme für Russland schlimmer ist als für Deutschland.

Wer sagte, man müsse erst prüfen und sicherstellen, dass die Sanktionen Russland auf jeden Fall mehr schaden als uns, wurde im besten Falle nicht ernst genommen. Meistens aber beleidigt.
Und jetzt fürchten Außenministerin und Innenministerin einen „Volksaufstand“? Wollen sich „nicht erpressen und spalten lassen“?
Das ist Politiker Rhetorik wie im Film. Ein Phänomen wohl unabhängig von der Partei, wenn man erst mal in der Regierung ist.

Das Konzept ist nicht gescheitert. Die Umsetzung ist gekippt.

Gegenrede zu dem, was zu laut behauptet wird.

Das Konzept ist nicht gescheitert.

Wir waren nicht naiv. Und auch die Politiker der letzten Jahrzehnte nicht.

Was ist das überhaupt für eine Haltung?

Und sicher wusste jeder, wie Putin tickt.

Der Mann war KGB Offizier. Das reicht doch fürs Erste.

Und dann 2006 der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja.

Na, und alles, was noch dazu kam. Reicht doch wirklich.

Es wurde trotzdem Handel betrieben und das war gut so. Denn man wusste, dass es dünn und kalt wird, wenn man nur mit Demokraten Handel treibt.

Also sah man drüber weg. Wie man bei Saudi Arabien und anderen Schurkenstaaten auch drüber weg sah und sieht.

Man sah ja auch über die eigenen Defiziten und Überschreitungen in der NATO hinweg.

Jetzt tun alle so überrascht und moralisch erschüttert. Von Merz und Röttgen, die entgegen der Zusage nun doch aus dem miesen Krieg ein saftiges Oppositionsthema machen bis hin zu Baerbock, die sich darüber echauffiert, dass Putin gelogen hat. Also ob der Westen nicht lügt. Der Irakkrieg 2003 mit über 500.000 Toten basierte auf einer Lüge.

Jahrzehnte funktionierte unsere Devise, allem Elend zum Trotz, wer Handel treibt und kulturelle Feste feiert, wird keinen Krieg führen. Wer sich umarmt, schießt nicht aufeinander. Putin hat nicht auf Deutschland geschossen. Und auch auf keinen Bündnispartner.

Das macht diesen verheerenden Angriffskrieg nicht besser und wäscht auch Putin nie und nimmer rein. Der ist auf immer verbrannt. Hat sich verrannt und selbst verbrannt.

Das ist aber kein Beleg dafür, dass das Konzept falsch war, was jetzt vielfach behauptet wird.

Das Konzept ist und bleibt ein richtiger Ansatz. Denn in der Weltpolitik läuft das nicht nach Wunsch und Vorstellung. Da regiert die Wirklichkeit und die ist selten freundlich und konstant.

Jetzt ist das alt bewährte Konzept nach 70 Jahren auf tragische Weise gekippt.

Deshalb muss man das Vorherige und das lange für alle Seiten Prosperierende nicht grundsätzlich in Frage stellen. Wie soll das denn weiter gehen, wenn an das Konzept „Frieden durch Handel“ nicht mehr geglaubt wird?

Besser wäre es, endlich eine ehrliche Antwort auf die Frage zu finden, warum es gekippt ist.

Wem nutzt es, dass es gekippt ist?

Wer hat es kippen lassen? Und warum?

Wer hat es nicht verhindert? Und warum?

Wer hat sich verspekuliert? Und warum?

Wer wurde ent-täuscht? Und von wem?

Und – wie kriegen wir das wieder gerade gestemmt? Denn das muss es. Schon für unsere Kinder und Enkel.

Dieses Mal stabiler und sauberer.

Wer diese Fragen nicht stellt, vergibt Chancen.

Auf der Suche nach Schuldigen sind selbst ernannte Richter nun nicht zimperlich. Wer nun von „nützlichen Idioten“ mit Blick auf Russland spricht, ignoriert selbstgefällig und geschichtsvergessen ein Konzept, das Jahrzehnte lang funktioniert und von dem wir alle profitierten. Alle. Wirklich alle, die in unserem Land seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts leben und lebten.

Wer sich umarmt, schießt nicht aufeinander. Putin hat Deutschland nicht angegriffen. Und auch keinen Bündnispartner. Das macht diesen miesen Krieg nicht besser und wäscht auch Putin nicht rein, aber es soll doch zeigen, dass unser Konzept „Frieden durch Handel“ nicht gescheitert ist und Steinmeier & Co. nicht so verantwortungslos und dumm waren, wie viele jetzt gerne raushauen.

Jetzt ist der Friede auf tragische Weise gekippt. Deshalb muss man das Vorherige und lange Prosperierende doch nicht grundsätzlich in Frage stellen. Lieber die richtigen Fragen stellen, warum es gekippt ist. Das passiert aber wohl erst nach dem Krieg.

Wer hat versagt? In Afghanistan.

Afghanistan.

Auch das ist leider Teil der bitteren Wahrheit. Teil II

Ich lese seit Tagen auf allen Kanälen:

„Der Westen hat versagt.“

„Deutschland hat versagt.“

„Deutschlands Verrat an Afghanistan.“

„Deutschland lässt uns im Stich.“

„Deutschland hat uns verarscht“

„Deutschland, du mieses Stück.“

Das sagen so oder ähnlich die meisten Medien, viele deutsche Bürgerinnen und Bürger mit und ohne Migrationserfahrung und einige Afghanen, die in Deutschland leben oder in Afghanistan.

Auch die, schon mal straffällig geworden sind in Deutschland, wo sie Schutz und Unterhalt bekamen, dementsprechend abgeschoben wurden und nun wieder in Deutschland sind. Auch Politiker, deren Parteien erst gar keine Truppen nach Afghanistan schicken wollten und die bis vor kurzem noch nach Afghanistan abschieben wollten.

Alle sind sich da auf einmal so verblüffend einig wie selten in den letzten Jahren. Sogar AfD und Linke, SPD, CDU und Grüne sehen das große Versagen bei Deutschland. Nicht bei der deutschen Regierung, nicht allein bei der Kanzlerin nicht vor allem beim Außenminister.

Nein. Bei Deutschland. Wer auch immer alles da mit gemeint ist.

Und warum.

Natürlich wurden Fehler gemacht. Was denn sonst bei einem solchen Höllenkommando? Insbesondere jetzt bei der Rettung der Ortskräfte. Deutsche und Afghanen. Bitter. Keine Frage.

Peter Scholl Latour würde sagen, Deutschland hätte erst gar nicht nach Afghanistan gehen sollen. Das war der erste Fehler. Mag sein.

Wie so oft, wenn Probleme sehr komplex sind und eine sehr lange Geschichte mit sehr viel mächtigen Interessensvertretern haben, ist das eben nur ein Teil der Wahrheit.

Deutschland hat Fehler gemacht.

Ein Fragment. Ein Fragment indes, das mit einer so bemerkenswerten Einstimmigkeit 24 h/ Tag rauf und runter erzählt wird, als gäbe es keine andere Sicht der Dinge.

Als gäbe es nicht noch andere Fragmente, die die ganz Wahrheit ausmachen.

Ich meine diese Fragmente der bitteren Wahrheit, die ich nirgendwo lese, aber ebenfalls sehe:

„Versagen, verarschen, im Stich lassen.“

Vor allen ist es die afghanische Regierung, die das eigene Volk im Stich gelassen hat.

Der Präsident wurde mit einem Koffer voller Geld mit einem Flugzeug aus Katar abgeholt und kann sich da erst mal ausruhen.

Dann ist da die zahlenmäßig hoch überlegene, mit viel Geld vom Westen, auch von Deutschland, dem miesen Stück, ausgestattete afghanische Armee von etwa 300.000 tapferen Männern, aus der viele afghanische Soldaten schon vor dem Angriff geflohen sind, die keinen nennenswerten Widerstand gegen die geschätzt 70.000 Feinde der Freiheit auf knatternden Mopeds und in alten Toyotas geleistet haben. Nicht wenige afghanische Soldaten, so heißt es, liefen den Taliban wohl schon entgegen und übergaben als Zeichen der Unterwerfung die Waffen, die sie vom Westen, auch Deutschland, bekommen haben.

Und dann sind da noch die vielen jungen Männer, im wehrfähigen Alter, die ihre Mütter, Schwestern, Töchter und Frauen jetzt wieder einmal auf dem Weg in ein anderes Land ausgerechnet den Taliban überlassen. Nicht bevor sie ihnen wohl versprochen haben, sie so schnell wie möglich nachzuholen. Ausgerechnet den Taliban überlassen. „Deutschland, du mieses Stück.“

Und letztlich ist da noch die große Zivilbevölkerung von vielen Millionen, der es trotz Schutz durch die Nato Truppen auch in 20 Jahren nicht gelungen ist, Demokratie und Gleichberechtigung von Frauen auch nur ansatzweise so nachahmenswert zu machen, dass der zivile Widerstand für die Zeit nach dem im letzten Jahr angekündigten Abzug stabiler geworden wäre. Ist nicht schlimm. Sollte man aber wissen.

Ja, und wenn ich das alles einmal auch bei sonst vielschichtiger sendenden ZDF.de, Süddeutsche.de, DIE ZEIT.de, taz.de Monitor etc lese, dann, ja dann setze ich mich selbstverständlich auch wieder tiefgehender mit dem „Versagen Deutschlands“ auseinander und gehe der Frage nach, wer, vor allem wen „verarscht hat“.

Und dann erst, dann kann man den ganzen „Versagern im Westen“ durchaus den Vorwurf machen, warum sie all das nicht geahnt haben. Und warum der Abzug so dilettantisch verlief.

Bei diesem Teil der bitteren Wahrheit müssen wir dann aber auch einen Blick nach China, Russland, Pakistan, Iran und in die Türkei werfen, „Deutschland, du mieses Stück.“