Das Dilemma mit den Werten.

Wir sind in einem Dilemma. Politik & Medien schweigen.

Wir als Gesellschaft wollen weiterhin selbstverständlich Schwule, Lesben, Trans-Leute schützen. Genauso auch Migranten und Geflüchtete. Das tun wir seit über 60 Jahren und haben in den letzten 50 Jahren Großartiges geleistet. Auch wenn es immer noch viel zu tun gibt. Und das Erkämpfte sogar wieder in die Schusslinie kommt.

Wir haben in der Tat hart und lange dafür gekämpft, dass die Trans- und Queer Feindlichkeit eingedämmt wird. Ich selbst bin mal mehr, mal weniger seit Jahrzehnten dabei.
Spätestens mit dem grandiosen Satz von Klaus Wowereit im Sommer 2001 „Ich bin schwul und das ist gut so.“
ist Schwulsein raus aus der Dunkelecke. Mit dem Oberbürgermeister der Bundeshauptstadt wurde es sogar salonfähig. Sehr cool damals.

Das ist 20 Jahre her und war ein großer Freischlag. Grandios. Danach konnten Politiker, Medienschaffende und andere sehr viel leichter ins Outing gehen, ohne Repressalien zu befürchten. Wir haben schwule Bundesminister, Bürgermeister, Parteivorsitzende, Parlamentarier, lesbische Ärztinnen, Schauspielerinnen und Talkshow Prominenz.
Sogar die Bayrische Staatskanzlei, der Reichstag sowie große Versicherungskonzerne und kleine Gemeinden hissen die Regenbogenfahne. Ich sehe das mit Freude und Respekt

Ebenso haben wir uns dafür eingesetzt, dass Migranten eine enorm bessere Teilhabe bekommen. Wir haben mittlerweile Bürgermeister, Bundesminister, Parteivorsitzende, Parlamentarier, Forscherinnen, Ärztinnen, Landesbeauftrage, Professorinnen und so weiter mit Migrationsbiographie. Auch hier wurde viel erreicht. Zu Recht und weil alle Beteiligten sich ins Zeug gelegt haben. Mehrheiten und Minderheiten gemeinsam für alle. Sehr gut.

Genau das „Gemeinsam für alle“ zerbröselt gerade an einigen unterschiedlichen Rändern.

Nur ein Aspekt. Was neu ist in den letzten Jahren. Immer mehr der Migranten und Geflüchteten kommen aus Ländern, die gerade Homosexualität oder auch freie Frauen in all ihren Facetten nicht so respektieren, wie wir es in den letzten Jahren etabliert haben.
Viele von ihnen bringen diese Ablehnung mit. Ob wir das wollen oder nicht. Bisher konnte man das ignorieren. Seit einigen Jahren nicht mehr, da die Übergriffe, auch tätliche zugenommen haben. Es ist schon zu viel Blut geflossen und zu viel Leid geschehen. Und das wird zunehmen, da es von keiner offiziellen Seite hierzu ein klares Problembewusstsein gibt. Es gibt keine klare Kampfansage. Und das ist bitter.

Außerdem haben wir im Land leider immer noch solche Leute, die schon immer hier waren und noch nie Schwule leiden konnten. Das alles wird auf die Dauer zu viel.
Die, die schon da sind und die, die von außen dazu kommen.

In Dresden wurden im Oktober 2020 zwei Schwule auf offener Straße aus islamistisch fundamentalistischen Gründen mit dem Messer angegriffen. Einer von ihnen starb. In den Medien wurde das lange unter dem Narrativ „Tourist in Dresden von Mann erstochen“ klein gehalten, bis es nicht mehr ging. Es hat fast zwei Wochen gedauert, bis das Motiv und der Täter einen Namen bekamen.

Genauso war es auch 2015/16. Es brauchte Tage, bis Medien und Politik Transparenz zuließen. Bitter dabei war, dass damals in NRW eine SPD Frau als Ministerpräsidentin am Ruder war. Das lange Schweigen zu diesem Angriff respektloser, junger Männer auf die Würde der freien Frau haben ihr viele Wählerinnen über genommen. Andere auch.

Und jetzt Malte in Münster. Kürzlich wurde eine Transfrau in Bremen in einem Bus beleidigt und verprügelt, während eine Horde junger Männer den Täter anfeuerten.

Wo bleibt der Aufschrei des Entsetzen meiner Genration und meines politischen Umfeldes? So laut und böse, wie er zu Recht gehört wird, wenn Rechtsradikale um sich schießen und Bürgerinnen und Bürger mit Wurzeln aus anderen L ändern töten.
Damit meine ich vor allem Sozialdemokratinnen und Grüne. Also all jener, die sich seit Jahrzehnten für Frauen, Lesben, Schwule einsetzen und vielfach selbst dafür diffamiert wurden? Sobald klar wird, dass der Täter aus einer „schützenswerten“ Gruppe kommt, wird es leiser.
Bloß kein Fass aufmachen. Bloß nicht den Rechten in die Hände spielen. Da werden auch schon mal andere Werte für geopfert.

Und genau das ist unser Dilemma.

Was also tun?
Als Einzelfall ablegen? Wieder. Und wieder? Wohl kaum. Wenn zur landeigenen Schwulenfeindlichkeit noch vermehrt der von Außen dazu kommt, wird es brenzlig“, sagen mittlerweile auch Wählerinnen und Wähler von SPD und Grüne. Immerhin.

Nur hört man die nicht öffentlich. Nur ausnahmsweise.
So was wird nur unter vier Augen gesagt. Das macht alles noch schlimmer. Denn in dieses Vakuum springt wie immer die AfD und übernimmt so die Deutungshoheit für gesellschaftlich relevante Themen. Und wir überlassen ihr diese Deutungshoheit.
Das ist feige und fahrlässig.

Hierzu muss es endlich seitens der Regierung, mitgetragen von Organisationen, Kirchen und Moscheeverbänden sowie den Medien, neue Lösungswege geben.

Antirassistisch im Grundsatz und ohne Tabus in der Umsetzung.
Das heißt auch, dass man sich von Bildern, Visionen und Grundsätzen aus den 1980ern und 1990ern trennen muss. Dass diese angepasst werden und weiter entwickelt werden müssen.

Das tut weh. Ist aber nötig, wenn wir unsere Werte und die hart erkämpften Rechte unserer Minderheiten im Land weiterhin schützen wollen

Zum Angriff auf Salman Rushdie – Messer in der Hand und Mittelalter im Kopf

Radikale Fundamentalisten mit Messern in der Hand und dem finsteren Mittelalter im Kopf töten und bekämpfen vor allem Muslime. Liberale und freiheitliche denkende Muslime. Die, die wichtiger Teil unserer Gesellschaft sind und die unsere Unterstützung brauchen.

Das wird von den meisten nicht wahrgenommen. Aus Angst, was Falsches zu sagen, wird lieber nichts gesagt. Könnte ja falsch verstanden werden und Gefühle verletzen. Außerdem rassistisch rüberkommen.

Es wird auch gar nicht erst differenziert.

Damit werden die Fundamentalisten, auch die gewaltlosen, gestärkt und die Liberalen unter den Muslimen geschwächt.

Sabine Raiser

Seit Jahrzehnten geht das so hier im Land.

Und es wird uns krachend auf die Füße fallen.